Die Waffenstillstandsinitiative

Für einen Waffenstillstand in der Ukraine, die dauerhafte Beilegung des Konfliktes – und eine Weltfriedensordnung

Uli Fischer (1.2.2023)

Die bekannte Strategie-Institution RAND aus den USA hat ein Papier mit der Überschrift „Einen langen Krieg vermeiden“ (1) bzgl. der Auseinandersetzungen in der Ukraine veröffentlicht. In der Ausarbeitung werden u. a. Vor- und Nachteile der territorialen Wiederherstellung der Ukraine sowie die Vor- und Nachteile einer länger anhaltenden Auseinandersetzung in der Ukraine aus Sicht der US-Interessen dargelegt.
Findet das notwendige Umdenken in Teilen des Staatsapparates der USA statt, oder ist man sich im Klaren, dass aus Sicht der USA und der US-geopolitischen Perspektive die wichtigsten Ziele erreicht sind? Wird ein Umschlag des Krieges erwartet oder befürchtet? Oder werden solche Papiere in einer Art Doppelstrategie lanciert, um sich im Falle unerwünschter Entwicklungen absichern zu können?
Die angekündigten erweiterten Auseinandersetzungen in der Ukraine im Frühjahr 2023 stehen unmittelbar bevor. Sie beinhalten die Möglichkeit einer vollständigen Niederlage der ukrainischen Streitkräfte mit allen möglichen Konsequenzen für daraus folgende weitere Eskalationen.
Auch die deutsche Regierung kann und sollte gemeinsam mit an der Beilegung des Konfliktes Interessierten in dieser Situation handeln. Sie kann sich für ein den Konflikt beilegendes Prozedere unter Berufung auf RAND und unter Nutzung der entsprechenden offiziellen und informellen Kanäle verwenden. Internationale Unterstützung – siehe die südamerikanischen Vorschläge – wäre ihr sicher. Zur Erinnerung eine einfache Abfolge eines Waffenstillstand- und Friedensprozesses:

Sofortige Waffenruhe zwischen der Ukraine und Russland an allen Frontabschnitten zur Vereinbarung eines Waffenstillstandes
Eintreten des Waffenstillstandes spätestens ein Jahr nach dem Beginn der Kampfhandlungen – Dauer mindestens 90 Tage
Unmittelbarer Austausch von Gefangenen und Verletzten, humanitäre Hilfe
Einfrieren aller Waffenlieferungen
Einstellung aller logistischen und strategischen Einflussnahmen Dritter in den Konflikt
Eruierung von Friedensverhandlungen und Fragen der kurz- und mittelfristigen Versorgung betroffenen Bevölkerungen
Beginn von Friedensvertragsverhandlungen ohne Vorbedingungen mit abschließender Klärung des regionalen Konfliktes

Unmittelbare Ziele

Vermeidung von weiteren Opfern, Erholung für die Soldaten
Normalisierung des Lebens für die betroffenen Zivilbevölkerungen
Erhalt von Infrastruktur und Industrien
Schaffung einer Ausgangsbasis für eine langfristige Lösung

Mittel- und langfristige Ziele

Wiederaufbau der zerstörten Gebiete
Klärung der politischen Perspektive der Ukraine
Schaffung unhintergehbarer Sicherheitsgarantien mit dem Ziel einer stabilen Weltfriedensordnung

Hintergrund

Verhandlungen, das ist kaum bestreitbar, müssen früher oder später den Schlusspunkt setzen unter diese Auseinandersetzung. Die Annahme, dass es sich bei dieser um eine stellvertretende Auseinandersetzung zwischen den Großmächten Russland und USA handelt, ist begründet. Sie ist Teil der gegenwärtigen Kräfteverschiebungen im globalen Maßstab. Dies ist von vielen Beobachtern und Analysten bestätigt worden. Zuletzt hat sich auch die chinesische Regierung in dieser Richtung geäußert. (2)
Der bisherige Ablauf der Auseinandersetzung lässt darauf schließen, dass der Konflikt von den ihn steuernden Kräften entlang einer bestimmten Linie gefahren wird, die die äußerste Form der Eskalation zu meiden sucht. Das RAND-Papier ist Ausdruck dieses Vorgehens. Kein Mensch kann die Eskalation allerdings seriös ausschließen. Sie bleibt als ganz reale Drohkulisse beständiger Hintergrund des Geschehens, so wie in „Nachkriegs-Friedenszeiten“ auch. Eine zynische Akzeptanz der jetzigen Kriegssituation verbietet sich ohnehin.

Die Perspektive

Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft haben ein vitales Interesse daran, zur friedlichen Beilegung von Konflikten zurückzukehren bzw. beizutragen.
Die jetzt entstandene Situation, das RAND-Papier ist hier ein Indiz, muss dazu genutzt werden, den regionalen Konflikt langfristig auf dem Verhandlungswege zu lösen. Der Schwung dieser Bemühungen ist für eine Kampagne zur Befriedung der Weltpolitik und Gewährleistung von Sicherheitsgarantien für jedes Volk zu nutzen. Die geopolitischen Spannungen werden sonst weiter zunehmen. Entsprechende implizite Ankündigungen, z. B. zum Konflikt USA – China, durchziehen regelmäßig die Presse. Soll Taiwan der nächste Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen mit Weltkriegspotential werden?
Eine anzustrebende Weltfriedensordnung, die den Namen verdient hat, bedarf vieler Voraussetzungen. Erkennbarer politischer Wille auf allen Seiten ist die wichtigste. Dabei müssen die Bevölkerungen in ihrem Friedenswillen gehört werden. Realismus, Interessensausgleich und Kompromissbereitschaft sind selbstverständliche Begleiter dieses Ansinnens. Die widerstreitenden Interessen müssen klar benannt, austariert und, wo nötig, korrigiert werden. Man darf diese Perspektive nicht aufgeben – so illusorisch sie in vielerlei Hinsicht für den Moment sein mag. Nur ein Beispiel für die Schwierigkeiten auf dem Verhandlungswege: Wie sollen die russischen Entscheider dem Westen Vertrauen entgegenbringen nach den unmissverständlichen Äußerungen von A.Merkel zum Sinn und Zweck von MINSK II? Sie werden es irgendwann tun, wenn sie Grund für Vertrauen haben können. Hier bedarf es ganz sicher glaubhafter Vorleistungen von westlicher Seite.

Eine denkbare Schrittfolge

Ein erster politischer Schritt in Richtung einer Weltfriedensordnung könnte eine wirksame Vereinbarung der Großmächte Russland, USA, China u. a. sein, die je vorhandenen Sicherheitsinteressen offen zu kommunizieren, zu respektieren und für die Weltöffentlichkeit nachvollziehbar und sichtbar niederzulegen. Dies liegt im Interesse aller Länder, die letztlich immer Betroffene der Auseinandersetzung zwischen den Atom-Mächten respektive Großmächten sind. Im zweiten Schritt wäre eine Vereinbarung zu schließen, die verbindlich jegliche Erstschlags- und Angriffsstrategie ausschließt. Sie baut auf dem Gebot des Gewaltverzichts in internationalen Beziehungen auf. Im dritten Schritt wäre, unabhängig von den Verteidigungsbündnissen, eine Orientierung auf Nicht-Angriffsfähigkeit aller militärischen Verbände in den Blick zu nehmen. Im vierten Schritt wäre eine verbindliche Abrüstungsinitiative zu ergreifen, die die Nicht-Angriffsfähigkeit bei zu erhaltender Verteidigungsfähigkeit umsetzt. Die dabei notwendig umzusetzenden Konversionen müssen von Anfang an mit bedacht und klar kommuniziert werden.

Ausblick

Der Aufbau von Vertrauens-Politik in globalem Maßstab unter Wahrung der Interessen der Völker ist unumgänglich. Natürlich ist das schwierig. Präsident Lola hat gezeigt, dass es zumindest verbal möglich ist. Der Verzicht auf Schuldzuweisungen und die gegenseitige Akzeptanz legitimer Interessen sind hier notwendig Ausgangspunkt. Die Situation in der Ukraine hat nun eine besonders herausfordernde Situation geschaffen, die Deutschland und Europa einerseits dazu aufruft, eine wirklich souveräne Politik gegenüber US-Interessen einzuleiten und andererseits auch vorausschauend dem Großkonflikt zwischen den USA und China, so das noch möglich ist, entgegenzutreten.
Die vielfältigen in diesem Prozess notwendigen Schritte in der Grundlegung einer praktikablen und haltbaren Weltfriedensordnung müssen Gegenstand umfassender Überlegungen sein. Zu diesen gehören u. a. die Einhegung von finanzpolitischen und wirtschaftlichen Interessen und ihr Ausgleich in einer sich umstrukturierenden globalen Ordnung. Das Bewusstsein für die Vielschichtigkeit des Prozesses und der Wille, ihn endlich einzuleiten, sind ebenfalls unumgänglich. Es ist höchste Zeit für einen Wandel im geistigen und politischen Klima. Der Krieg in der Ukraine kann und muss innerhalb von kurzer Zeit beendet werden und kann Ausgangspunkt werden für die Schaffung einer Weltfriedensordnung.
Die Worte „Waffenstillstand“ und „Weltfriedensordnung“ sind möglicherweise Schlüsselbegriffe. Ihre permanente Implementierung in die öffentlichen Debatten und ihre Diskussion in den Bevölkerungen wie in Regierungen und Entscheidungsgremien sind überfällig. Ein Insistieren auf diesen Begriffen mag im ersten Moment angesichts der politischen Realitäten als naiv erscheinen. Die Fokussierung eines unbestreitbaren Zieles aller, sei es von einzelnen Parteien auch nur behauptet und nicht dezidiert mit Taten hinterlegt, kann jedoch ein Türöffner für Interessen ausgleichende Entwicklungen sein. Im Letzten stellt die Weltfriedensordnung einen Prozess dar, der die Grundlagen unserer Zivilisation neu bestimmen muss. Ohne eine umfassende Bewältigung der „Weltbewusstseinskrise“, die spätestens mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts auf den Plan trat, werden wir die Kämpfe um Vormacht und Beherrschung weltweit nicht beenden können.

Ich schreibe hier als interessierter Bürger dieses Landes und nicht als Berufsanalyst oder professioneller Journalist. Deutschland, so hat man den Eindruck, wird sich früher oder später neu erfinden müssen, wenn es eine glückliche Zukunft für sich und seine Nachbarn noch für möglich hält. Ein Wandel vom Waffenlieferanten in kriegerische Auseinandersetzungen zum Initiator einer Waffenstillstandsinitiative mit Ausblick auf Konflikt beilegende Verhandlungen wäre ein erster Schritt.

(1) https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html
(2) https://www.berliner-zeitung.de/news/china-gibt-usa-schuld-fuer-krieg-in-ukraine-li.312325