Ich fahre mit dem Zug durch Deutschland. Heißt dieses Land noch so? Ist es es noch? Komme ich in diesem Land noch an oder steige ich schon in einem anderen aus, wenn ich ein paar Stunden durch die Landschaften gefahren bin, die es prägen?
Sind die Gräser schon informiert, voruniformiert, bereit? Wissen die Bäume darum, was sie zu tun haben im Fall des Falles? Ist das Wild schon rekrutiert? Haben die Gewässer vorgesorgt für die Zeit, in der wir alle zusammenhalten sollen? Die Berge stehen stumm und starren in die Weite. Aber sie halten schon mal Wacht. So jedenfalls sehen sie es – früher oder später im totalen Miteinander.
Ich reise mit einem kostbaren Schatz durch dieses Land. Ich kann ihn selbst nicht sehen, ich brauche ihn nicht zu tragen, er bleibt immer bei mir und ist so gar nicht anhänglich. Niemand kann ihn mir nehmen. Niemand ist von ihm ausgeschlossen. Wie ein unsichtbarer Gral, feiner als fein, weiter als weit, mehr Ort als alles andere. Sie wollen ihn uns ausreden. Ihn, auf den jeder sich stützt, ob er es bemerkt oder nicht. Sie wollen so tun, als gäbe es ihn gar nicht. Sie können ihn in sich selbst nicht entdecken. Sie meinen ihn verbieten zu können. Sie hoffen, dass er ihrer Zensur gehorcht und sich nicht zu Wort meldet. Sie können seine Strahlung nicht ertragen, sie arbeiten sich an ihm ab, als ob es um ihr Leben ginge. Zu jeder Schandtat fühlen sie sich durch diesen Schatz herausgefordert und bereit. Sie, das andere wir. Ich, du, wir, sie.
Der Schatz schweigt, er gibt dem Herzen sein natürliches Gewicht, eine süße leichte Schwere, die uns am Boden hält, die uns hält im Raum, uns einordnet in ein unsichtbares Gefüge, in dem der Kleinste und der Größte geschwisterlich vereint weben und leben. Er will mich daran erinnern, dass er ganz Ich ist, das unmittelbarste Unmittelbare, das Erste vor allem. Seine Gegenwart zu spüren macht mich einfach, ich verzichte ohne zu verzichten auf alles Maskenhafte, auf jedwedes Zweite, das ihm nicht gerecht wird, seiner nicht achtet.
Der Schatz wispert. Unhörbares wird gesagt, Unsagbares gehört. Er ist das Kostbarste und er kostet keinen Heller. Er ist eine Kategorie für sich. Ich reise mit ihm durch dieses deutsche Land wie jeder andere. Ich reise durch ein Deutschland, das sich in ungefühlten Schmerzen windet, taub und blind bleibt oder geworden ist und aus seiner wirklichen Größe dennoch immer noch schöpft. Es ist das Deutschland, das in einem Brennpunkt des Kampfes um das Leben selbst steht und ihn allein nicht bestehen kann. Wer kommt ihm zu Hilfe? Hilft es sich selbst, dann hilft ihm?
Der Schatz klingt in mir, ich höre ihn in anderen klingen auf je verschiedene Weise und das ergibt in mir einen unhörbaren Chor. Er wird auch in vielen anderen erklingen. Herrliche Solostimmen erstehen aus und mit ihm. Sie tragen den Gesang, der dem Schatz entströmt, weit in das Land hinein, über es hinaus.
Der Schatz ist ein Mythos, eine Wahrheit, die wahr zu nennen schon an ihm vorbeigeht. Er braucht nicht gehoben zu werden. Er wartet immer wieder auf uns, die wir ihm entspringen. Aus ihm heraus ist immer noch alles möglich – auch ein Wandel in uns, den die Welt noch nicht gesehen hat, auch ein Wandel, den die Welt noch nicht gesehen hat.
(geschrieben auf einer Zugfahrt am 24.5.2024)