Berliner Begegnungen philosophischer Art

Text von Uli Fischer, Bad Reichenhall im Januar 2023

Der Philosoph Michael Andrick schrieb am 11.01.2023 in der Berliner Zeitung einen ansprechenden Aufruf zu mehr philosophischem Denken in einer freiheitlichen Gesellschaft. Überschrieben war sein Text mit: „Philosophie trägt das Leben und den Staat.“ Man braucht die Dinge nicht schönreden. Natürlich kann und muss man zur Zeit fragen: Leben wir überhaupt in einer freiheitlichen Gesellschaft? Und hat der Staat, d. h. die konkreten Menschen, die ihn repräsentieren und die ihn sozusagen exekutieren, nicht soeben und fortlaufend demonstriert, dass er weder für einfachstes maßnahmekritisches Denken empfänglich ist noch für grundlegendere Infragestellungen der gegenwärtigen „Staatslenkung“ und Perspektiven?

Ich habe mich trotz / ungeachtet dieser Differenz über Michael Andricks Grundaussagen gefreut, weil ich ähnlich denke und glaube zu verstehen, dass er ja eben gerade keiner unkritischen Haltung das Wort redet, ganz im Gegenteil. Philosophisches Denken, wirkliches Denken überhaupt, kann und sollte ein alltägliches Handwerkszeug für den menschlichen Geist sein, der den Dingen und sich selbst auf den Grund gehen will und dies auch tut. Sie ist kein Gerüst aus formelhaften Aussagen, eine Abfolge von historisch verbürgten Äußerungen Einzelner, der möglichst konsistente Bau von Systemen und Kritiken oder lediglich haltlose Spekulation über das Wesen der Welt und des Menschen. Philosophie erlaubt ein Denken, das das praktische Leben scheinbar weit übersteigt, gleichwohl es sich „mittendrin“ ereignen kann. Für mich und manch anderen Zeitgenossen ist Philosophie eine Lebenshaltung, die sich der Existenz in jeder Hinsicht stellt, es zumindest versucht – geistig – seelisch – physisch. Sie ist das Werkzeug zu einer sinnvollen Lebensbewältigung. Und im Verbund mit einem geerdeten Leben „unschlagbar“? Vielleicht.

Die vergangenen 3 Jahre haben die ohnehin „verdichtete Zeit“ noch einmal komprimiert, beschleunigt. Es ist offensichtlich so, dass unter dem Druck der Ereignisse für den menschlichen Geist viele Fragen entstehen, die weit in die Fundamente unseres Denkens, der Welt-Ordnung und der Gesellschaft reichen. Grundsätzliches tritt wieder auf den Plan. Ein wenig wie 1989, und doch anders, umfassender. Kaum ein Mensch wird von sich behaupten können, nicht mit existenziellen Fragen von Leben und Tod, Zugehörigkeit und Sinn, seinen eigenen und anderen weltanschaulichen Überzeugungen konfrontiert zu sein. Der Umgang miteinander in Familie, Beruf, Öffentlichkeit und mit sich selbst hat offenbart, was wir denken, wer wir sind, wem wir glauben und warum, woran wir glauben, was wir hoffen und ersehnen. Die Corona-Krise, um das hoch komplexe Geschehen einmal so zu nennen, war und ist ein Spiegel des Ist-Zustandes für die Gesellschaft. Was haben wir, jeder Einzelne, in diesem Spiegel gesehen, entdeckt? Halten wir das eigene Spiegelbild, so wie es wirklich und wahrhaftig ist, aus? Und können wir beim Blick in den Spiegel entdeckte Schatten auf unserem Gesicht durchlichten mit Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe, so schwer es manchmal fallen mag?

Als ich 1990 im Nachwende-Berlin die ersten „post-sozialistischen“ Schritte in philosophischer Hinsicht machte, primär aus dem Bedürfnis, die gesellschaftlichen Veränderungen als junger Ost-Deutscher in der Tiefe zu verstehen und die zerbrechende sozialistische Ideologie hinter mir lassen zu können, kam ich durch einen Freund zunächst mit dem Angebot der Ringvorlesungen des Philosophen Rudolf Bahro an der Humboldt Universität in Kontakt. Und ich war begeistert von dem, was dieser freiwillig in die noch-DDR zurückgekehrte Denker, ein ehemaliger Dissident und selbst einstmals kommunistischer Funktionär, an Analysen und Denkangeboten vortrug. Da sprach ein Visionär und Kämpfer des Geistes, das war mir umgehend klar geworden. Sein Vermächtnis, sein Buch „Die Logik der Rettung“, war dann ein Referenzpunkt für mein Denken, das auch heute noch nicht nur historisch lesenswert ist. Zum Beispiel im Hinblick auf den Werdegang der Grünen, die er mitgegründet hatte und dann enttäuscht verlies, als ihm klar wurde, dass bestimmte,letzlich materialistische, Paradigmen nicht überwunden werden konnten im Zuge der Parteiwerdung und des Wirkens auf dem „politischen Parkett“. Alle damaligen Befürchtungen haben sich leider bestätigt.

Die Parallelen der politisch gegensätzlichen Systeme der Ära des Kalten Krieges, vor allem der Hyper-Industrialismus und die grundsätzlich materialistischen Prämissen und Orientierungen hüben wie drüben, die Bahro herausarbeitete, leuchteten mir damals wie heute ein. Und mit Rudolf Bahro, der in seinen Vorlesungen und Schriften vermittelte, dass es mit bloßer äußerlicher Kritik und kosmetischer Veränderung in Politik, Wirtschaft und Sozialem zur Lösung der großen zivilisatorischen Widersprüche nicht getan sein konnte, begriff ich die Möglichkeiten einer vertieften Selbst-Analyse, der „Schattenarbeit“, und einer positiven Aufdeckung des spirituellen Potentials des Menschen. Ich konnte diese „Innen-Arbeit“ annehmen, die ja in sozialistischer Zeit suspekt war und allenfalls in „Kritik und Selbstkritik“ ihren meist persönlichkeitsunterdrückenden Ausdruck fand. Ich verstand plötzlich, dass meine Liebe zu Literatur und Lyrik, zur Musik, zum gesellschaftsvisionären Denken auch damit etwas zu tun hatte: dem Geist des Lebendigen. Dass es ein „Innen“ der Welt wirklich gibt. Und das war natürlich mit dem Bruch mit der erlernten materialistischen Weltanschauung verbunden.

Rudolf Bahro war in dieser Hinsicht ein hervorragender Brückenbauer für uns Ost-Deutsche auf der Suche nach der tieferen Wahrheit des Lebens wie gesellschaftspolitischem Neubeginn und nach Halt in den sich so rasch verändernden Verhältnissen, weil er ja unsere Sprache sprach, die Besonderheiten des Denkens und Lebens in der gerade sterbenden DDR bestens aus eigenem Erleben kannte. Mein Interesse an Philosophie im Allgemeinen und an Erfahrungen und Aussagen spiritueller Natur war jedenfalls geweckt, und meine persönliche Erkenntnis- und Entwicklungsreise begann. Es sollte eine Reise mit vielen Momenten des Entdeckens und des persönlichen Wachstum werden und auch eine Reise mit Hindernissen und schmerzlichen Erfahrungen und Momenten des Scheiterns und Wiederaufstehens. Was hatte ich anderes erwartet – als philosophisch und spirituell Denkender, als „Wahrheitssucher“?

Im Rahmen der erwähnten Ringvorlesungen von 1990 trat dann damals auch ein Philosoph auf als von Rudolf Bahro geladener Gast, der in seiner Vorlesung den Denkansatz vertrat, dass die ökologische Krise nur dann verständlich und bewältigbar werden würde, wenn wir sie als als eine umfassende Bewusstseinskrise des Menschen verstehen. Die ökologische Krise war seit den 1970ern ins Zentrum zumindest der westeuropäischen gesellschaftlichen Diskussion gerückt, völlig zu Recht, wie gerade wir Ost-Deutschen wussten. Der hoch gewachsene Mann, damals Mitte 40, der in eigentümlicher Weise das Auditorium mit prägnanter und akzentuierter Sprache, ruhig und energiegeladen, in seinen Bann zog, war Jochen Kirchhoff. Es waren durchaus fremde, auch aufregende Töne einer bis dato mir unbekannten Denkwelt, die wir in seiner Vorlesung mit dem Thema „Die ökologische Krise als Bewusstseinskrise des Menschen“ hörten. Aber sie blieben meiner Seele in guter Erinnerung.

Der Vortragende war schon ein wenig bekannt geworden im Osten, denn er hatte ein Buch verfasst, zu dem Rudolf Bahro ausgerechnet am 9.11.1989, ein Ost-Deutscher einem West-Deutschen, ein Vorwort verfasst hatte, das mich und meinen Freundeskreis damals sehr ansprach. Es heißt „Nietzsche, Hitler und die Deutschen“ und war und ist eine brillante Analyse der Phänomene des Nationalsozialismus aus der Perspektive der Bejahung der Potentiale des Menschen, die die Nazis vielfach missbraucht und geschändet hatten, wie nur allzu bekannt ist. Die Lektüre dieses Buches hatte mir das unterschwellige Gefühl bestätigt, dass die massenhafte Euphorie der Menschen zumindest zu Beginn des Dritten Reich und der fatale Mitmachgeist und die Gleichschaltung der Öffentlichkeit, die ich in anderer Form und unter anderen ideologischen Vorzeichen ja auch in der DDR kennengelernt hatte, an dem ich als Jugendlicher und junger Mensch auch beteiligt war, einer innenweltlichen Konstellation und Manipulation entspringen konnte. Eine rein ökonomische Analyse – bei all ihrer Berechtigung – war keine wirklich befriedigende Erklärung, um den Faschismus wirklich zu verstehen. Das gilt auch für den Kommunismus. Beide Systeme spielen auf der inneren Klaviatur des Menschen diejenigen Oktaven an, die die tief verborgene Erlösungssehnsucht des menschlichen Bewusstseins beständig erklingen lassen. Beide Systeme bedienen sich mythischer und quasi-religiöser Symbolik und Ritualistik und sind vielleicht nicht zufällig auf „christlichem Boden“ entstanden.

Jochen Kirchhoff hatte mit dem Buch wie mit der Vorlesung zur ökologischen Krise als Bewusstseinskrise einen Nerv getroffen: Der Mensch ist mehr als nur ein biologisches Wesen, er verfügt über große, grandiose geistig-seelische wie manifestierende Möglichkeiten, die allerdings fehlgeleitet werden können und sich gegen ihn wenden, wenn er sie missachtet. Faschismus und ökologische Krise – ich füge hinzu: Kommunismus wie Transhumanismus – entspringen so gesehen im Kern der gleichen Grundursache: unserem unbewusst gespaltenen Verhältnis zur Welt und zu uns selbst. So die tragende Aussage und das damit verbundene Denkangebot, das seinen Impuls aus meiner Sicht noch längst nicht verbraucht hat. Das Tiefenverständnis der Zivilisationskrisen ist noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die „kollektive Neurose“ bzgl. des kosmischen Zusammenhangs im Innen und Außen bedarf weiterhin der Benennung und der „Großen Therapie“. Wenn auch alle diese Phänomene ganz sicher vielfacettig sind und nicht neuerlich monokausal gedeutet werden können und sollten.

Ich nahm dann noch an einigen Vorlesungen von ihm in kleinerem Rahmen teil. Dann zog es mich aus Berlin „in den Westen“ als einer von Vielen des damaligen „kleinen Exodus“ vor, mit und nach der Wiedervereinigung. Es sollte gute 22 Jahre dauern, bis ich auf den Philosophen aus Berlin wieder aufmerksam wurde.

Als das geschah, bestellte ich mir umgehend seine naturphilosophische Themen behandelnde Tetralogie (erschienen im Drachenverlag) und las intensiv und mehrmals – versuchte zu verstehen und musste mich durchbeißen. Das war ein gutes Stück Arbeit, obwohl ich zur Atmosphäre der Bücher sofort Zugang fand, sie irgendwie verstand, nicht sofort rational, eher atmosphärisch und von der Richtung des Ausgesagten her. Der „Klang“ dessen, was ich las, war mir irgendwie vertraut. Ich wusste für mich intuitiv: Ja, so kann und muss man an die Dinge herangehen, auf gute Weise radikal, in diesem Geist. Und die Person, die oder der das schreibt und überhaupt schreiben kann, kann nicht nur darüber schreiben, sie oder er muss ihre oder seine Philosophie auch leben. (Kleiner grammatischer Scherz: Ich hoffe, das war jetzt „gendergerecht“ genug für diesen Text.) Das war mir bei der Intensität der Texte sofort klar. Die Einheit von Denken und Handeln ging ganz eindeutig von der Lektüre aus, wurde regelrecht gefordert. Das sprach mich an, war eine Bestätigung eigener Überzeugung: Ein authentisches Leben dessen, was man denkt und will, ist ein wirksames Beitragen zur Veränderung in dieser so schwierigen und komplexen Ära des Übergangs.

Diese Zweiheit von mich ansprechendem Denken und spürbarer Integrität des Schreibenden überzeugte mich: Ich ließ mich auf Denkangebote und Hinweise ein. Sie erreichten mich wohl auch auf der Grundlage meiner gewonnenen Erfahrungen beider Gesellschaftssysteme und auch einer gewissen gewonnenen Reife auf dem Lebensweg. Nicht zuletzt war mein eigenes Denken, geschult durch die Kenntnisnahme vieler verschiedener Ansätze der Weltbeschreibung und durch eigene Überlegungen vorbereitet, auch desillusioniert und aufnahmebereit genug, für neue, starke Impulse.

Neben der Lektüre der Werke wie „Die Anderswelt“ oder „Was die Erde will“ begann ich die auf dem Youtube-Kanal von Jochen Kirchhoff zur Verfügung gestellten Audio-Vorlesungen – sie wurden dankenswerter Weise u. a. von einem Studenten in den 1990ern mitgeschnitten – ebenfalls wahrzunehmen und hatte so manchen intensiven und schönen Abend beim Zuhören und Mitdenken in meinem Dachzimmer hier am Rande der Alpen in Bad Reichenhall, wo ich schon gute 15 Jahre lebe und diesen Text gerade schreibe. Zusammen mit einem Mit-Freund der Philosophie habe ich mich an das Transkribieren der Vorlesungen gemacht. Mittlerweile sind die verfügbaren ca. 50 Vorlesungen nebst einigen Vorträgen nachlesbar und frei verfügbar im Internet. Sie sind eine Fundgrube an Impulsen in Sachen transzendentaler Naturphilosophie. Siehe: youtube-Kanal und vorlesungen.jochenkirchhoff.de.

Einige im Rahmen der Vorlesungen behandelten Themen möchte ich hier stellvertretend nennen: Giordano Bruno und seine Bedeutung als Philosoph der Unendlichkeit, die Triade von Weltgeist, Weltseele und Weltäther, Polarität als Grundprinzip des Lebendigen, Licht und Bewusstsein, eine neue Naturwissenschaft, das Bewusstsein der Pflanzen, Mensch – Sinn-Mitte der Evolution. Ein Ausschnitt, wie gesagt. Ich denke, er spricht für sich. Die Vorlesungen sind mit vielfältigen Quellenangaben und Literaturhinweisen gespickt, das Gesamtangebot hat es in sich und ist ein substanzieller Beitrag eines zeitgenössischen Philosophen zu grundsätzlichen Fragen des Umgangs mit dem menschlichen Potential, mit dem Suchen nach Wahrheit und Wirklichkeit und mit den Fehlentwicklungen unserer, man mag es manchmal kaum noch oder nur zaghaft aussprechen: Zivilisation.

Michael Andrick hat so klar und deutlich, verständlich und nachvollziehbar auch, für die Philosophie eine Lanze gebrochen hat. Das möchte ich hier ebenfalls tun, auch mit dem Hinweis auf diese Vorlesungen als ein Stück Stadtgeschichte, das mehr Berlinern – und Freunden der Philosophie überhaupt – bewusst werden kann und sollte.

Und wenn Berlin nun, ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Stadt und des Landes, schon die Bundesland-Wahlen wiederholen muss, dann möchte man fast ein bisschen spöttisch und augenzwinkernd, vielleicht auch ernst fragen: Warum dann nicht gleich die Philosophie wählen? Der Philosoph Platon ging in seinem Denken davon aus, dass den Philosophen in der Lenkung der Geschicke der Landesverwaltung ein gebührender Platz einzuräumen sei. Michael Andrick hat darauf auf seine Weise wieder hingewiesen – und darauf, dass jeder Mensch seinen ganz eigenen Zugang zur Philosophie finden kann, weil sie ein Lebenselixier und eine Lebensnotwendigkeit ist und bleibt. So erlebe ich das als Freund der Philosophie auch immer wieder. Ein Hoch auf das wirkliche Denken und seine Kraft! Wir brauchen es, wenn wir die „Weltbewusstseinskrise“ bewältigen wollen. Und ich möchte abschließend hinzufügen – in Abwandlung von Friedrich Nietzsches Aussage über Musik: Ohne die Philosophie ist das Leben ein Irrtum . – Man kann ihn auch als sogenannter Laie beheben, und zwar anknüpfend an das eigene genuine Nachdenken, Wahrnehmen und Selbst-Vertrauen.